Leichen, Lieder, Liebe – Tag 2


Sibylle singt im beschaulichen Brachsenbrücke

Lange lag ich noch verwirrt in meinem Lager und dachte an den gestrigen Tag, den Traum, an Frauen mit Feenstaub und riesige schwarze Todeskutschen. Meine Gedanken flogen hin und her und ließen sich nicht bändigen. Erschöpft setzte ich mich auf und versuchte, sie mittels eines neuen Liedes zu bändigen… Franz hatte sich ja nun auch eines gewünscht. Also arbeitete ich daran.

> Der Meiler, der ist rund und hohl.
´Rein kommt das Holz, ´raus kommt die Kohl.
Sie wärmt uns immer in der Nacht und das Essen wird damit heiß gemacht.
Der Köhler ist ein wicht´ger Mann, auf den man nicht verzichten kann.
Und willst du nicht frier´n, musst du ihn ehr´n.
Wirt, schenk ihm einen ein! <

Wieder fröhlich und mittlerweile auch halbwegs ausgeschlafen kleidete ich mich an, um in den Wald zu Franz zu eilen und es ihm zu präsentieren.
Doch so weit kam ich gar nicht. Vor der Taverne angekommen, wurde ich direkt von Sieglinde abgefangen. „Sibylle!“ sagte sie. „Wir brauchen nun deine Lieder mehr, denn je! Frohmund ist tot.“ 
Frohmund ist tot? Was war hier geschehen? Gerthold verfolgte mit wütendem Blick und Geifer spuckend Charlotte, Elisabeth saß bleich und verstört auf einem Stein, Kraut drückte sich an ihre Beine, die hohen Herren strahlten eine unübertroffene Dominanz und Herrschaft aus, einer hielt mein Notizbuch in der Hand und sagte „Fast hätten wir dich verdächtigt!“ und Uwe saß grimmig an der Seite und flüsterte „Ich habe den Mord gestanden.“ 
Ich stürmte in die Taverne zu Jupp, der mich angrinste und sagte, dass alle schon dachten, ich sei über alle Berge. Jörg sei krank, ihm sei so schlecht und das und mein Verschwinden seien eindeutige Zeichen, dass ich ihn geschwängert hätte. Wir waren ja gestern Abend auch gemeinsam aus der Taverne verschwunden. Ich dachte nach. Hatte ich etwas verdrängt? Reichte so ein Gang zur Kammer schon aus, um jemanden zu schwängern? Würde Jörg nun ein Kind von mir bekommen? Brachsenbrücke brauchte neue Bürger… aber mir kam das alles seltsam vor.

Das war alles zu viel für mich. Wie zuvor meine Gedanken sprangen nun alle aus Brachsenbrücke herum und ließen sich nicht bändigen. Ich sollte am besten wieder ein Lied schreiben, um Ruhe in unser Dorf zu bringen…
Nach und nach wurden die Informationen und meine Gedanken klarer. Dietrich Fintenschreck, der vor Tagen als Ermittler nach Brachsenbrücke gekommen war, soll gar kein Kastenangehöriger gewesen sein und Frohmund schändlich ermordet haben. Uwe hatte den Mord an Hans-Friedrich gestanden, doch Gerthold beschuldigte Charlotte und verlangte die Trennung von seinem Weib. Jetzt verfolgte er immerhin nicht mehr Elisabeth, die aber völlig neben sich stand und kaum sprechen konnte. Sieglinde hatte schon Recht. Jetzt war meine Musik vonnöten!

Ich sang.

Nach und nach beruhigten sich alle halbwegs. Was mich wunderte war, dass Uwe und Charlotte weiterhin unbehelligt unter uns herumliefen. Aber die hohen Herren wüssten schon, was sie tun. Ich hörte, wie sie sich berieten. Für sie war Charlotte die Mörderin und nicht Uwe. Der eine hohe Herr schien auch einen Blick auf sie geworfen zu haben und schlug vor, dass sie sie nach Volmarsberg mitnehmen sollten.

Ich sang.

Und spielte Flöte, zu der Jaulius sang.

Plötzlich tauchte Waldemar auf. Mein schöner Waldemar. Endlich! Was hatte er zu berichten? Weshalb war er so lange fort gewesen? Ich bestürmte ihn mit Fragen, die er geduldig beantwortete. Würde er mich einmal mit nach Volmarsberg nehmen? Mein Herz klopfte.
Zur Mittagsstunde kleckerten nach und nach alle in die Taverne hinein zum Essen fassen. Da ich nach all der Aufregung keinen Hunger verspürte und immer mehr das Gefühl hatte, dass meine Lieder halfen, stellte ich mich auf meinen Platz und sang ein Lied nach dem anderen.

Reinhold lächelte.

Sieglinde lächelte.

Ich sang. Und sang. Und sang.

Gerthold ranzte mich heute weit weniger an, als noch am Vortag, doch zog er mich einmal beiseite und sagte zu mir, ob ich nicht etwas anderes lernen sollte. „Für die Ernte alle Hände“ sagte er, oder so. Ich erklärte ihm, wie das Bardentum funktioniert und was für einen Sinn wir haben. Dass wir den Menschen Freude bringen und sie dadurch viel besser arbeiten. Dass sie sich abends nach dem Tagwerk entspannen könnten. Er glaubte mir das nicht. Nur, weil er keinen Sinn für Kunst hat. Banause! Er fragte mich, ob ich nicht seine Haushälterin sein wolle, wenn Charlotte erst einmal weg sei. Ich erklärte ihm, dass ich dazu schlecht tauge und frei sein müsste zum Singen. Und wenn überhaupt würde ich jetzt wohl Elisabeth auf ihrem Hof helfen, wo sie so ganz allein ohne Frohmund sei. Und ob er sich nicht überlegen würde, sie zu heiraten, dann wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und ich könne weiter singen. Dann floh ich vor ihm und seinem Drängen. Er versteht Musik einfach nicht…

Ich sang.

Vor der Taverne sollten sich schließlich alle sammeln. Wir kamen dort zusammen, so dass die hohen Herren der Kasten ihren Richtspruch halten konnten.
Dietrich Fintenschreck war ein entlaufener Sklave, hatte sich fälschlich als Kastenangehöriger ausgegeben und Frohmund umgebracht. Darauf hatten die Krieger ihn zur Strecke gebracht. Charlotte hatte Hans-Friedrich ermordet, weil der sich an ihr vergangen haben sollte. Sie würde von Gerthold getrennt werden und mit nach Volmarsberg kommen. Uwe wurde freigesprochen, er hatte den Mord nur gestanden, um seine Schwester zu schützen. Gerthold, jetzt wo er frei sei und sein größter Widersacher tot, bekam dessen Hof noch dazu, da er der einzige Großbauer in Brachsenbrücke war. Er sollte heiraten. Am besten Sieglinde, dann könnten sie gemeinsam die Führung von Bachsenbrücke im Sinne der Erschaffer übernehmen. 
Wir jubelten. Eine Hochzeit? Oh ja! Ich begann sofort ein Lied zu dichten.

> Heute kann es regnen, stürmen oder schneien, denn wir strahlen selber, wie der Sonnenschein
Heute ist ein Jubeltag! Darum singen wir!
Alle Brachsenbrücker feiern heute hier – Alle Brachsenbrücker feiern heute hier.
Wie schön, dass wir in Brachsenbrücke sind. Hier weht ab heut´ ein and´rer Wind.
Wie schön, dass wir heut´ feiern tun. Wir tanzen, bis wir heute Abend ruh´n. <

Ernst, Gustav und Sieglinde stimmten sofort mit ein und ich verteilte meine Instrumente, so dass wir ein kleines Orchester bildeten. Wie schön das klang! So wunderbar harmonisch! DAS, genau DAS Lied ist das perfekte Lied für die Arena in Volmarsberg! Und wenn wir dort als ganz Brachsenbrücke hingingen, um das zu singen? Wäre das nicht mal was Neues? So großartig! Und wenn das die Leute hörten, was würden sie dann nicht erst von unserem schönen Dörfchen denken? Dann würden wir sicher schnell Ehre und Ruhm und neue Bewohner bekommen! Und für die Familie Goldkehlchen hätte ich schließlich auch meinen Beitrag geleistet und gezeigt, dass ich eine große Bardin bin.

Wir sangen.

Bernd und Jupp und einige andere machten derweil schnell alles für die Hochzeit sauber und ordentlich. 
Plötzlich winkte mich Elisabeth zu sich. Sie sah immer noch traurig aus, doch nicht mehr so blass wie zuvor. Ich nahm sie in den Arm, damit sie weinen konnte. Dann erzählte sie mir, dass Gerthold sie gefragt hätte, ob sie ihn nicht heiraten wolle. Sie könne auf dem Hof bleiben und dort arbeiten. Wollte er Sieglinde nicht? Aber Elisabeth und Sieglinde waren doch gute Freundinnen! Elisabeth hatte ohnehin nein gesagt. Doch Gerthold umgarnte sie in den weiteren Stunden immer und immer wieder. Was war denn nun mit der Hochzeit? Und weshalb gingen Waldemar und Charlotte Arm in Arm in den Wald? 
Jörg sah uns und winkte mir wieder zu. Ihm ging es besser und auch, wenn er noch etwas blass war lächelte er mich an. Ich dachte an Waldemar und Charlotte, lächelte traurig… und winkte schüchtern zurück.

Wieder in der Taverne setzte ich mich zu Reinhold an den Tisch, der vor sich hinblubberte. So viele Tote – Sie sprachen zu ihm. So viel Arbeit – so schlechtes Wetter.

Ich sang.

Plötzlich wurden alle still. Die Tür war aufgegangen und mit den bereits bekannten hohen Herren betrat ein hochgewachsener schlanker Mann in dunkelroter Robe unsere Brachsenbrücker Schänke. Ein Mann der ersten Kaste. So etwas haben wir hier lange nicht gesehen. Ich schaute ihn verängstigt an. Franz hatte mir erzählt, dass er gehört hatte, dass wenn man einen der ersten Kaste versehentlich berührt, man in die Luft verpufft und nicht mehr ist. 
Jemand rief nach Musik. Es sei hier zu leise. Ich schaute Reinhold verängstigt an, der noch neben mir saß, drückte mich dann vorsichtig an dem Mann vorbei und griff nach meiner Laute. Was sollte ich nur singen? Die Nationalhymne? Bloß nicht! Wenn ich auch nur einen Ton falsch traf!

Ich sang. – leise

Ich trank Met. Meine Stimme wurde fester. Ich klang ganz anders, aber ich hatte solche Angst, ich kümmerte mich nicht darum. Der Honig im Wein ölte meine Stimme und ich sang.
Dann wurde alles still, denn der höchste Herr der ersten Kaste wollte ein Ritual an dem Leichnam durchführen, um mit dessen Geist zu sprechen. Reinhold brachte mit ein paar anderen die Leiche von Dietrich hinein und sie legten sie mitten in die Taverne. Es gruselte mich so sehr, dass ich gar nicht mehr weiß, was dabei geschehen ist. Der Herr fragte lauter viele Sachen und der Geist lachte und antwortete und zum Schluss wurde er ins Jenseits hinabgestoßen.

Ich trank.

Und sang.

Jörg lächelte.

Waldemar war weg.

Ich saß am Tisch und musizierte. Jaulius sang mit mir, ich trank Met und es wurde langsam ausgelassener. Jörg saß mir gegenüber, doch ich war so beschäftigt mit meinen Liedern, dass ich nicht mitbekam, wie er mich anlächelte. Ich sah, dass Reinhold mit dem höchsten Herren sprach und immer wieder laut etwas murmelte. Sprach er wieder mit den Toten?

Ich sang.

Plötzlich stand Jörg auf und bekam meine Aufmerksamkeit zurück. Er stellte sich vor mich, griff nach meiner Hand. „Sibylle!“ sagte er, „Sibylle, ich versuche es dir schon die ganze Zeit zu sagen, doch du hast es nicht gesehen. Deshalb frage ich dich jetzt noch einmal. Sibylle, willst du meine Frau werden?“ Ich starrte ihn an. Mein Herz klopfte bis zum Hals. So viele hatten mir in der letzten Zeit gesagt, wie rechtschaffend er sei und ob er nicht eine gute Partie für mich wäre. Hatten sie doch gemerkt, wie er um mich warb.
Meine Gedanken flogen zurück zu den letzten Tagen, in denen er so aufmerksam und heldenmütig gewesen war. Immer, wenn ich in Schwierigkeiten zu geraten schien, war Jörg da und lächelte, stand für mich ein. Ich sah ihn vor mir. Der Kampf mit dem Untoten, Sein Wunsch nach Größe, vielleicht sogar in die Kaste zu kommen. Seine Blicke und seine Versuche, mich zu beeindrucken. Seine Erfolge, mich zu beeindrucken. Und immer, wenn ich den Raum betrat, ging bei ihm die Sonne auf. Er strahlte und lächelte mich an. Vergessen war der Unmut und das Chaos in seiner Familie. Charlotte, die Mörderin, war immer lieb zu mir gewesen. Vergessen war auch Waldemar, der die Gunst der Stunde am Schopfe gepackt hatte und Charlotte jetzt, wo Gerthold sie los war seinerseits umgarnte. Jörg war ein großer Jäger. Er war ein so kluger Mann. Er liebte meine Musik! Er liebte mich? Ich schaute ihn verlegen an.
„Für immer?“ fragte ich zaghaft. Erstaunt zwinkerte er mir zu. Er hatte wohl nicht mit so einer Antwort gerechnet. „Für immer.“ Strahlte er und ich sagte Ja. Glücklich nahm er mich in den Arm und küsste mich.

Wir lächelten.

Hand in Hand gingen wir an die frische Luft, zu eng war uns gerade der kleine Schankraum. Draußen standen wir unter dem sternenklaren Himmel am Feuer und sprachen verliebt und glücklich von unserer Zukunft. Ich würde immer für ihn singen. Jörg lächelte. Er wollte versuchen die dritte Kaste zu erreichen. Er wollte ein großer Jäger werden. Der war er doch schon längst. Ich sollte ein Lied über ihn schreiben… Wir würden vielleicht gemeinsam nach Volmarsberg gehen, damit ich in der Arena singen kann. Charlotte freute sich. Dann könnte sie bei der Hochzeit dabei sein. Sieglinde schaute traurig. Sie wollte, dass ich das Goldkehlchen von Brachsenbrücke bleibe. Aber alle wünschten uns viel Glück. 
Ich sang immer mehr Lieder und der Met stieg mir langsam ein wenig zu Kopf, setzte sich in meine Stimme. Sie schwang durch den Raum und ich probierte immer andere Lieder aus.
Gerthold ranzte wie gewohnt herum. Was war jetzt eigentlich aus der Hochzeit zwischen ihm und Sieglinde? Wir stritten uns über die Bedeutung von Handwerk und Handwerkskunst und ob Bardentum ein Handwerk sei. Er ist so ein unverschämter Banause! Doch der hohe Herr aus der zweiten Kaste gab mir Recht. Ha! Ich fragte ihn, ob es dann für Barden möglich sei, in die dritte Kaste aufgenommen zu werden und er bejahte dies. Aufgeregt fragte ich ihn, ob ich ihm etwas vorsingen dürfe, damit er einschätzen kann, ob ich eine Möglichkeit erhalten könnte. 
Dann rannte ich hinaus zu Jörg, der kurzerhand zum Nachtwächter ernannt worden war, weil Albert unfähig gewesen war und immer einschlief und erzählte ihm von dieser großen Möglichkeit für mich meiner Familie und auch ihm Ehre und Ruhm zu bringen, wenn ich es nur schaffte auch in die dritte Kaste aufgenommen zu werden und er dann ja vielleicht auch und ach und wie großartig unser gemeinsames Leben werden könnte und er hielt mich ganz fest und ich lief wieder hinein, um für den hohen Herren zu singen.

Reinhold stand mir zur Seite, so aufgeregt wie ich war hatte ich ihn gefragt, ob er mir bei der Nationalhymne helfen würde. Dieses Lied hielt ich für perfekt für ein Vorsingen vor solch einem hohen Herrn in solch einer Situation. Und ich wusste, dass, wenn Reinhold guter Dinge war er unglaublich gut singen kann. Wahrscheinlich sang er auch immer mit den Toten. Ein riesiger großer, gruseliger Chor. Doch er hatte eine engelsgleiche Stimme von den Erschaffern erhalten. 
Wir sangen also die Nationalhymne für unsere Erschaffer. Alle standen auf und sangen mit. Es war ein wirklich ergreifender Moment. Alle Trübsal und all das Leid fiel von uns ab, als ob die Erschaffer uns erhört hätten und uns mit ihrer Gunst segneten.

So sangen und feierten und lächelten noch bis in die späte Nacht hinein und als Jörg mir schließlich ein goldenes Kettlein zur Verlobung schenkte, da wusste ich, dass jetzt und hier und heute alles gut werden würde. Mein Herz war groß und frei und voller Musik für die Zukunft.

by Sibylle Goldkehlchen – Bardin von Brachsenbrücke