Leichen, Lieder, Liebe – Tag 1


Sibylle singt im beschaulichen Brachsenbrücke

> Durch Brachsenbrücke muss man geh’n.
Jeder Knochenwalder wird’s versteh’n!
Brachsenbrücke wird immer Heimat sein.
In Brachsenbrücke ist man niemals allein. <

Dieses Lied sollte uns alle langsam wieder aufmuntern, das hatte ich mir überlegt. Vielleicht taugte es sogar als neues Dorflied? Ich würde Sieglinde fragen. Sie liebt ja meine Lieder und ihr wird es ganz sicher gefallen! Auch, wenn ich nicht glaube, dass dieses Lied für einen Auftritt in der Arena in Vollmarsberg reichen wird… aber mir fällt ja immer noch etwas Anderes ein. Immer etwas Neues für die passende Gelegenheit.
Ich saß mit Jaulius in der Taverne, die sich langsam mit allen füllte, die ihr Tagwerk verrichtet hatten. Jupp kochte noch an seiner Suppe, also stand Bernd hinter dem Tresen. Während ich meine Laute stimmte und mich zum Singen bereit machte, fiel mir auf, dass Gerthold und Elisabeth schon wieder stritten. Sie wurden lauter und lauter, bis er sie schließlich des furchtbaren Mordes an seinem Vater vor vierzehn Tagen beschuldigte und wütend nach draußen ging. Ich schüttelte den Kopf und Sieglinde sagte auch sofort, dass alle dringend meine Lieder bräuchten, um wieder Mut zu fassen. Ich schaute mich um und sah nur lange Gesichter. Sie hatte Recht.

Ich sang.

An einem anderen Tisch saßen die Geschwister Eberfänger und tuschelten, wie sie es immer taten. Doch Jörg sah plötzlich auf und winkte mich heran. Was wollte der denn von mir? Die Brüder gingen mir sonst immer aus dem Weg. Uwe sowieso, der grummelte sich stets irgendetwas in seinen Bart, während Charlotte vor sich hin strickte. Doch Jörg war schon seit Kurzem nicht mehr so grantig zu mir. Er strahlte mich an und sagte: „Sibylle, du Schöne! Sing uns ein Lied!“ Ich war etwas verwundert, aber ich freute mich. Hatte ich es also endlich geschafft auch ihn von meinem Können zu überzeugen? Ich präsentierte ihnen das neue Lied über Hans-Friedrich, das ich mir ausgedacht hatte, um ihn auch noch nach seinem Tode in Erinnerung zu behalten.

> Am Tag, als Hans-Friedrich starb und wir rannten zu ihm.
Am Tag, als Hans-Friedrich starb zum Feldbauern-Hofe hin.
Das war ein schwerer Tag, als er dort in seiner Suppe lag.
Am Tag, als Hans-Friedrich starb, da sagte Elisabeth
Am Tag, als Hans-Friedrich starb, dass jemand ihn getötet hätt‘.
Das war ein schwerer Schlag, weil niemand von uns hier Mörder mag.
Am Tag, als Hans-Friedrich starb und der Feldbauern-Hof weinte.
Am Tag, als Hans-Friedrich starb und alles wie ein Mord erscheinte.
Seitdem sitzt die Furcht sehr tief, so dass Sieglinde Ermittler herrief. <

 

Leider kam das Lied nicht besonders gut an. Vielleicht ist das doch nicht unbedingt das beste Lied, um in Vollmarsberg in der Arena aufzutreten. Aber mir fällt ganz bestimmt noch ein Anderes ein. 
Und dann werde ich meiner Familie, den berühmten Goldkehlchen, die gleiche Ehre bringen, wie es bereits meine Brüder schafften. Ich dachte verträumt an die goldene Stimmgabel an meinem Hut, die mein Bruder in der Hauptstadt gewonnen und mir anschließend geschenkt hatte. Ich hatte noch nie etwas gewonnen…
Gerthold, der das Lied auch gehört hatte, wütete weiter durch die Taverne. Ich sang lieber noch ein paar andere Lieder… als plötzlich die Tür aufging und einige hohe Herren hineinkamen. Herr Fintenschreck war bereits schon vor zwei Tagen als Ermittler nach Brachsenbrücke gekommen. Wieso schickten sie nun noch mehr? Sie setzten sich an einen Tisch.

Ich sang.

Elisabeth und Gerthold versuchten beide ihrerseits mit den hohen Herren zu sprechen. Aber ob jemand von ihnen damit Erfolg hatte, kann ich nicht sagen.

Ich sang.

Frohmund setzte sich an meinen Tisch und sang mit mir. Das war schön. So langsam entspannten sich die anderen und es konnte doch noch ein schöner Abend werden. 
Da berichtete mir Franz davon, dass sein Meiler zerstört worden war. „Wie?“ fragte ich. „Um das zu verstehen“, sagte er „muss man wissen, wie ein Meiler funktioniert.“ Er erklärte es mir umfangreich und ich hatte sofort die Idee zu einem neuen Lied.

> Der Meiler, der ist rund und hohl.
Hinein kommt das Holz – heraus kommt die Kohl! <

Ich versprach ihm, noch weitere Strophen dafür zu dichten und er streichelte zufrieden Brikett, die auf seinem Arm döste.
Jörg setzte sich neben mich und schaute mich ganz fest an. Er strahlte und sagte, ich sei so schön und so lieblich und überhaupt. Ich dachte an den schönen und lieben Waldemar. Wo war er bloß? Er war schon seit Tagen weg, den Ermittler zu holen. Jetzt waren mittlerweile fünf von ihnen hier und er war immernoch nicht daheim in Brachsenbrücke… bei mir. Ich hatte ihm doch ein Lied gedichtet!

> Die Sonne, die Sterne tragen Kunde von dir.
Jeder Lufthauch erzählt mir von dir!
Jeder Atemzug. Jeder Schritt trägt deinen Namen weit mit sich mit. (Schandmaul) <

Also sah ich Jörg an… und rutschte weg. Er rutschte nach. Ich rutsche weg. Er rutschte nach. Ich rutschte weg. Er rutschte nach… Bank zu Ende. Charlotte sah das, gab ihrem Bruder einen stillen Wink und er schaute mich wie ein nasser Hund an und rutschte wieder weg. Was war da los? Dann sagte er noch, dass er schon vor Monden sein Herz an mich verloren hätte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und dachte noch einmal kurz an Waldemar.

Ich sang.

Jörg lächelte.

Ich sang ein Lied mit Jaulius. Das hat wunderbar geklappt und er bekam dafür eine Menge Kekse. Dann griff ich zur Geige, mein neuestes Instrument. Ein mit Drähten bespanntes Dreieck und einem Bogen. Jörg müsste mir mal neue Sehnen für den Bogen mitbringen…

Jörg lächelte.

Doch bereits nach drei Tönen lächelte er etwas angestrengter und der eine hohe Herr mit dem grauen Bart brüllte laut durch die Taverne, dass der Katzenjammer aufzuhören hätte! Geknickt legte ich sie beiseite. Ich müsste das wohl noch weiter üben. So taugte die Geige noch nicht für die Vollmarsberger Arena… Obwohl Sieglinde sagte, dass es sich ganz wunderbar angehört hatte! Meine Sieglinde. Bin ich froh, dass sie die Dorfvorsteherin ist. Sie macht das so toll!
Gerthold jedoch ranzte mich erneut an, ich solle was Anderes lernen. So sei ich kein Gewinn für die Gemeinschaft. Ich wollte mich nicht mit ihm streiten und ging ihm aus dem Weg.

Jörg lächelte.

Ich sang.

Dann ging ich hinaus, um Jaulius ein bisschen frische Luft zu gönnen und fand Reinhold am Feuer. Er erzählte wieder wirre Dinge von sprechenden Toten und erloschenen Lichtern. Oder waren sie brennend? Ich weiß es nicht mehr. Jörg kam hinzu und kurze Zeit später auch Gerthold, um mich wieder mit seinen Vorwürfen zu verfolgen. Ich lief ums Feuer und versteckte mich hinter Reinhold und Jörg, die sich ihm entgegen stellten, als ich plötzlich eine Gestalt aus der Nacht kommen sah. Sie war groß und blass und hatte ein völlig entstelltes Gesicht. WIEDERGÄNGER! Ich schrie und rannte zurück in die Taverne. Jörg hinter mir her. Drinnen blieb er vor mir stehen, sagte atemlos nur „Wenn ich den Wiedergänger töte, dann heirate ich dich!“ und lief wieder hinaus. Verdattert blieb ich stehen, bis die anderen mich mit ihren Fragen bestürmten. Die hohen Herren aus den Kasten griffen nach den Waffen und auch die anderen Männer liefen zur Tür, während wir Frauen uns drinnen verschanzten. Charlotte drückte mir ein Geweih in die Hand und ich griff noch nach meiner Laute.

Wir waren still.

Keiner lächelte.

Als die Männer nach einiger Zeit wieder hinein kamen, schienen sie das Problem gelöst zu haben. Jörg trat zu mir und sagte, er hätte ihn getötet. Also fast. Zumindest dabei geholfen. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Eigentlich wäre das die perfekte Geschichte für ein neues Lied gewesen, aber das fiel mir in dem Moment nicht ein. Zu verwirrend war für mich die Situation, dass er anscheinend ernsthaft um mich buhlte.

Ich sang.

Alle unterhielten sich über den Wiedergänger und was die nicht alles immer anstellen können. Frauen schwängern und so. ich habe das nicht verstanden, aber Elisabeth sah sehr besorgt aus. Und Uwe erzählte noch von einem Eber mit roten Augen, die im Nebel auftauchten. Oder war es ein Esel? Das berichtete zumindest Frohmund. 
Plötzlich rummste es laut am Fenster, doch niemand reagierte. Ich sah aufgeregt in die Runde, doch niemand außer mir schien das gehört zu haben. Auch Brikett, die auf Franz Arm lag, hatte sich nicht gerührt. Er fragte mich, ob ich denn rote Augen gesehen hätte. Ich schaute zum Fenster, doch dort spiegelte sich nur das Licht der Laterne. Ich wollte das alles schon als Hirngespinst meiner überaus kreativen Phantasie ablegen. Die Goldkehlchens galten immerhin als eine der größten Bardenfamilien aus Nordhorn und ich war nicht umsonst eine angehende große Künstlerin, doch jemand fragte noch nach und irgendwie kam es dann dazu, dass die hohen Herren das prüfen wollten. Sie fanden nichts und waren sehr erbost.

Ich sang.

Ganz plötzlich passierte ganz viel auf einmal. Jörg stellte sich vor mich und machte mir erneut einen Antrag, als Uwe, sein Bruder hineingestürmt kam und mich bitterböse ansah. Ich hätte gelogen und müsste nun büßen. Angstvoll schaute ich ihn an, Jörg warf sich vor mich und sagte, er würde mich retten, als die Kastenangehörigen schon hinein kamen und Albert im Schlepp hielten. Er hätte zu den wichtigsten Zeiten geschlafen und sein Boot vernachlässigt, weshalb das Dorf keinen Fisch bekäme und deshalb würde er nun bestraft. Ich floh neben Elisabeth und zitterte vor Angst. Sie brachen Albert seinen Finger mit einem riesigen Hammer und ich dachte schon, ich wäre jetzt die Nächste. Frohmund hatte mir einmal erzählt, dass einem in Vollmarsberg sogar die Haut abgezogen worden war, der fehl gehandelt hatte. Was würden sie dann mit mir anstellen, wenn sie glaubten, ich hätte gelogen und sie umsonst in die Nacht hinaus geschickt? Ich starrte Elisabeth an, die mich festhielt. Kraut schaute mich schief aus ihrem anderen Arm an. Doch die Herren hatten sich wohl erst einmal wieder abreagiert und so lief sie zu Albert, um ihn zu versorgen.

Ich konnte jetzt nicht singen.

Stumm saß ich an einem Tisch und starrte auf meine Hände und auf Albert, der mir bleich gegenüber saß. Am Nebentisch berieten sich Herr Fintenschreck und ein anderer Mann von der 3. Kaste und notierten sich Dinge. Ach wie schön wäre es, wenn ich auch schreiben könnte… Mein eigenes Liederbuch habe ich mehr zurecht gemalt, als dass man es schreiben nennen könnte. Ich kann nämlich gar nicht richtig lesen und schreibe die Lieder alle in meinem Kopf. Sie riefen mich herbei für Informationen über das Dorf und schüchtern stellte ich mich vor den Tisch und beantwortete alle Fragen. Als sie mit mir fertig waren, schluckte ich meine Furcht hinunter und sagte noch, wie Leid mir das täte, dass es zu dem Missverständnis gekommen wäre mit dem Rumms und den Augen und eigentlich hätte ich nichts gesehen, aber auch nichts gesagt und ich wollte nicht, dass sie unnütz wegen mir hinaus gehen und… da kamen die Anderen hinein, Herr Fintenschreck nickte mir zu und ich floh wieder zurück zu meiner Laute, erleichtert, dass ich eine Entschuldigung losgeworden war.

Ich sang.

Als Gerthold wieder begann mich zu verfolgen, beschloss ich, dass es für diesen Abend Aufregung und Lieder genug gegeben hatte. Es war bereits tiefe Nacht und Jörg bot mir an, mich zu meiner Kammer zu führen, damit mir unterwegs nichts passierte. Ich nahm sein Angebot an. Er hatte sich heute wirklich tapfer geschlagen.

In der Nacht träumte ich schwere Träume. 
Wiedergänger kamen in einer dunklen Nacht. Ich rannte durch enge Gassen, verfolgt von ihren entstellten Fratzen. Ich rannte und rannte. Da tauchte Jörg auf, mit großer Gestalt und geschwollener Brust. Er stellte sich zwischen mich und die Toten, griff nach seinem langen Bogen und schoss. Und schoss. Und traf. Und traf. Die Sonne ging auf. Jörg lächelte mich an und drückte mir seinen Bogen in die Hand. Doch der war viel zu groß für mich und ich konnte ihn nicht spannen. Zwei Pfeile fielen vor mir auf den Boden. Dann wachte ich auf. Was hatte das zu bedeuten?

by Sibylle Goldkehlchen – Bardin von Brachsenbrücke